Dieulefit
Hoffnungsträger
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Bodenrelief

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3.000 Einwohner – 1.500 Gerettete. Niemand verraten. Niemand verloren.
Personen:
Jeanne Barnier
Dieulefit – Wo Niemand ein Fremder ist.
Pierre Emmanuel
Dieulefit – Wo Niemand ein Fremder ist.
3.000 Einwohner – 1.500 Gerettete. Niemand verraten. Niemand verloren.
So beginnt die außergewöhnliche Geschichte eines kleinen südfranzösischen Städtchens, das in den Jahren 1940 bis 1944 zu einem Ort des zivilen Widerstands wurde – leise, konsequent und solidarisch.
Im Sommer 1940 flohen Tausende vor den deutschen Truppen aus Nord- und Westfrankreich in den scheinbar sicheren Süden. Doch auch dort zerfiel die Demokratie: Das autoritäre Vichy-Regime unter Marschall Pétain unterstützte zunehmend die deutsche Besatzung. Antisemitische Gesetze, Repressionen und Deportationen griffen bald auch in der Zone libre um sich.
Inmitten dieser Bedrohung wurde Dieulefit, eine kleine Stadt im Département Drôme, zu einem Zufluchtsort. 1.500 Verfolgte – darunter Juden, Regimegegner, Intellektuelle und Kinder – fanden hier Schutz. Die Gemeinde zählte nur 3.000 Einwohner. Und doch wurde niemand denunziert. Niemand ausgeliefert.
Zivilcourage als Gemeinschaftsleistung
Dieulefit war vorbereitet – nicht institutionell, sondern im Geiste. Als Luftkurort mit Kliniken, Pensionen und Sanatorien bot die Stadt Rückzugsräume. Die Menschen übten Diskretion, viele halfen aktiv mit, einige schweigend, alle mitgetragen von einem gemeinsamen Bewusstsein: Menschlichkeit geht vor Gehorsam.
Entscheidend war das Engagement Einzelner an Schlüsselstellen. Die junge Gemeindesekretärin Jeanne Barnier fälschte unter Duldung des Bürgermeisters Papiere und Ausweise. In der Schule Beauvallon wirkten Marguerite Soubeyran, Catherine Krafft und Simone Monnier – sie versteckten Hunderte jüdische Kinder, hielten den Unterricht aufrecht und gaben Geborgenheit. Die Schülerzahl verdoppelte sich – trotz Rationierungen und Gefahr.
Solidarität ohne Worte
Kommunisten organisierten Fluchtrouten, Bauern teilten ihre Ernte. Die Gendarmerie schaute weg. Priester stellten Taufbescheinigungen für jüdische Kinder aus. Der Präfekt ignorierte, was er wusste. Der Zusammenhalt war lückenlos – niemand sprach darüber, alle handelten.
Die Haltung von Dieulefit hatte Tradition: Schon seit dem 17. Jahrhundert war der Ort Zuflucht für Hugenotten. Über Generationen hinweg hatten Protestanten und Katholiken gelernt, einander zu achten. Im Krieg wurde aus dieser Toleranz gelebter Widerstand.
„Eine Stadt, in der jeder stillschweigend Widerstand leistete.“
Als die Wehrmacht 1944 Südfrankreich besetzte, wurden viele Orte zu Schauplätzen von Vergeltungsaktionen. Dieulefit blieb wie durch ein Wunder verschont.
Am 21. August 1944 war der Krieg für den Ort vorbei – und 1.500 Menschen waren noch am Leben.
Der Filmhistoriker Bernard Eisenschitz beschreibt Dieulefit rückblickend so:
„Eine Kleinstadt, in der die Leute alle stillschweigend Widerstandskämpfer waren […] alle wussten Bescheid, aber keiner hat je etwas gesagt.“
Erinnerung und Anerkennung
Neun Menschen aus Dieulefit wurden von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt – für ihren Mut, Leben zu retten, ohne etwas dafür zu fordern:
Jeanne Barnier, Catherine Krafft, Simone Monnier, Marguerite Soubeyran, Emmeline und Elie Abel, Madeleine und Pol Arcens sowie Henri Morin.
Heute erinnert eine Tafel im Rathaus an ihr Handeln. In der Schule Beauvallon lebt ihr Geist weiter.
Eintragungen ins goldene Buch von Beauvallon
„Die Welt kann altern, Beauvallon bleibt jung. Hassende Menschen werden ihren Kopf hängen lassen, Beauvallon wird seinen Stolz behalten. Liebe Tante Marguerite, liebe Catherine. …Während meines einjährigen Aufenthalts, haben Sie etwas vollbracht, was ich nicht mehr für möglich hielt. Sie haben mir Hoffnung gegeben.“
Eve Steinthal
Neun Einwohner von Dieulefit wurden für ihren zivilen Widerstand und für die Rettung von Juden unter dem Einsatz ihres Lebens von der Gedenkstätte Yad Vashem und dem Staat Israel zu Gerechten unter den Völkern geehrt.
Seit 2008 erinnert eine Tafel mit den Namen der Retter in der Eingangshalle des Rathauses daran: Emmeline Abel, Elie Abel, Pol Arcens, Madeleine Arcens, Catherine Krafft, Jeanne Barnier, Simone Monnier, Marguerite Soubeyran und Henri Morin.
Johannes Winter: Widerstand im Lavendelland. Faust Kultur, 9.2.2022.
Bernard Delpal: Dieulefit. Rettungswiderstand eines Dorfes in der Provence während der Nazi-Besatzung. Aus dem Französischen übersetzt von Ursula Bös. Frankfurt am Main 2021.
Bettina Storks: Die Kinder von Beauvallon. Historischer Roman – Der Spiegel-Bestseller nach wahren Begebenheiten. München 2023.
Bernard Delpal, Anna Tüne (Hrsg.): Rettungswiderstand in Dieulefit: Topographien der Menschlichkeit. Bielefeld 2013.
Hans Woller: Fluchtpunkt Dieulefit. Schweiz 2013.
Teil 1: Dieulefit – die Kleinstadt, die Juden rettete.
Teil 2: Fluchtpunkt Dieulefit, das Internat Beauvallon.
Teil 3: Deutsche Kommunisten im französischen Widerstand.
Teil 4: Das doppelte Spiel – alle wussten, keiner hat denunziert.
Journal 21.ch., online.
Anna Tüne: Von der Wiederherstellung des Glücks. Eine deutsche Kindheit in Frankreich. Berlin 2013.
Anne Vallaeys: Dieulefit oder das Wunder des Schweigens. 2008.
Thomas Pfaff: 07.1940 – Das Wunder von Dieulefit beginnt. Voraussetzung dafür waren die beispielhafte Zivilcouragevieler Bürger von Dieulefit und die lange liberale Tradition des Ortes – aber auch viele glückliche Umstände. Redaktion: Ronald Feisel. WDR-Zeiteichen 10.07.2015.
Thomas Pfaff: 08.1944: Die Stadt Dieulefit wird befreit. Über 1.500 Flüchtlinge überlebten in dieser kleinen Stadt, weil die Bevölkerung etwas schaffte, was als „Wunder von Dieulefit“ in die Geschichte einging. SWR2 Zeitwort, 21.8.2023.
Die Radiofassung der vierteiligen Serie „Dieulefit – Refugium in Zeiten der Barbarei“. Deutschlandfunk- Archiv, 27.August 2013.
Neuere Forschungen von Lucie Mouscadet und Nadège Tribouillard belegen, dass entgegen der bisherigen Annahme doch eine jüdische Frau in Dieulefit verhaftet und deportiert wurde. Amalia „Mila“ Sztejnberg, 1909 geboren, suchte 1942 Zuflucht in Dieulefit, wurde jedoch am 26. August 1942 von der Gendarmerie verhaftet. Über Crest, Vénissieux und Drancy wurde sie nach Auschwitz deportiert und am 4. September 1942 ermordet. Diese Entdeckung korrigiert das Bild von Dieulefit als vollkommen sicherem Zufluchtsort.
© Patrimoine Mémoire et Histoire, Dieulefit
„In Dieulefit ist jeder dem anderen der Nächste. Jener, der dort ankommt, gerädert von einer furchtbaren Busfahrt, ausgehungert, vielleicht verfolgt und terrorisiert von den Blicken, die auf ihn gerichtet wurden, darf hier aufatmen, der Frieden wird ihm endlich die Hand reichen. Er wird sich unter seinesgleichen fühlen, denn er ist hier einfach der Nächste, für den der Tisch immer gedeckt ist. Meine Anhänglichkeit an Dieulefit ist stets dieselbe geblieben, meine Dankbarkeit gegenüber denen, die zwischen 1940 und August 44 der Gerechtigkeit und der Freiheit die Treue gehalten haben, bleibt unverändert. Ich habe in Dieulefit meine schönsten Stunden erlebt. …“
Pierre Emmanuel
Ardi Goldman Kunst-
und Kulturstiftung gGmbH
60386 Frankfurt