Auerbach Philipp
Hoffnungsträger
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PORTRAIT

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Ich kann das entehrende Urteil nicht ertragen.
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„Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann das entehrende Urteil nicht weiterhin ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, umsonst ... Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen“.
Aus dem Abschiedsbrief von Philipp Auerbach
„Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann das entehrende Urteil nicht weiterhin ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, umsonst ... Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen“.
Philipp Auerbach wird 1906 in eine deutsch-jüdische Kaufmannsfamilie geboren. Der gelernte Kaufmann, Drogist und Chemiker flieht 1934 mit seiner Frau und der kleinen Tochter vor den Nationalsozialisten nach Belgien. Doch auch dort ist er nicht sicher: 1940 wird er verhaftet, nach Frankreich abgeschoben und in mehreren Lagern interniert. 1944 deportieren ihn die Nazis nach Auschwitz, später nach Buchenwald. Im April 1945 wird er von US-Truppen befreit – schwer gezeichnet, aber am Leben.
Trotz allem bleibt Auerbach nach dem Krieg in Deutschland. Er glaubt fest an einen Neuanfang, an ein demokratisches Deutschland, in dem jüdisches Leben wieder möglich ist.
Schon früh setzt er sich für die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus ein – nicht nur für jüdische Überlebende, sondern für alle Verfolgten. Auf Wunsch jüdischer Organisationen und des bayerischen Innenministers wird er 1946 zum Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte ernannt. 1949 übernimmt er zusätzlich die Leitung des Landesentschädigungsamtes in München. Tausende Holocaust-Überlebende, sogenannte Displaced Persons (DP), suchen bei seiner Behörde Hilfe. Viele sind mittellos, ohne Bleibe oder Perspektive. Auerbach hilft unbürokratisch, vermittelt Ausreisen, verschafft Schutz. In seiner fünfjährigen Amtszeit als Staatskommissar unterstützt er bis zu 100.000 Juden bei der Ausreise aus Bayern.
Doch sein Engagement bringt ihm nicht nur Wertschätzung, sondern macht ihn auch angreifbar. In einer Bundesrepublik, die vom kalten Krieg beeinflusst ist und sich auf Westintegration und Stabilität konzentriert, gilt Auerbachs Einsatz für eine konsequente Wiedergutmachung und Aufarbeitung der NS-Vergangenheit als störend. Er gerät zunehmend ins Visier von Politik und Justiz. 1951 wird er verleumdet, seines Amtes enthoben und verhaftet. Die Vorwürfe: Unterschlagung, Veruntreuung von Entschädigungsgeldern, Bestechung, Meineid und Titelmissbrauch. Nach 13 Monaten Untersuchungshaft beginnt ein aufsehenerregender Prozess – unter Richtern, die teilweise bereits während der NS-Zeit in der Justiz tätig waren. Einige Anklagepunkte, wie die unrechtmäßige Führung eines Doktortitels, treffen zu, viele andere erweisen sich als haltlos. Dennoch wird Auerbach zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Zwei Tage später nimmt er sich das Leben.
Er überstand ein SS-Gefängnis in Paris, mehrere Internierungslager, die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald sowie einen Todesmarsch im Januar 1945. Den Prozess und das Urteil überlebte er nicht. Tausende DP demonstrieren gegen das Urteil. Auf seinem Grabstein steht: „Helfer der Armen, Opfer seiner Pflicht.“
1954 wird Auerbach vom bayerischen Landtag vollständig rehabilitiert. Der Untersuchungsausschuss kommt zu dem Schluss, dass seine Aufgaben außergewöhnlich waren – und mit den Mitteln gewöhnlicher Amtsführung nicht zu bewältigen gewesen wären.
Quellen: Hans-Hermann Klare: Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte, Berlin 2022.
Karl Bachsleitner: Der Fall Philipp Auerbach.
Philipp Auerbachs Beitrag „Die Zukunft der rassisch, religiös und politisch Verfolgten“ vom 21. 4. 1947 hing seinem ersten Rechenschaftsbericht als Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte für den Zeitraum vom 15. September 1946 bis 15. Mai 1947 an. Vorgesetzte Behörde des Staatskommissariats war zu dieser Zeit das Innenministerium. Auerbach beschreibt die vielfältigen Aufgaben und Probleme, mit denen er bzw. sein Stab konfrontiert waren:
[…] Wir sind uns darüber einig, daß die Volksstimmung für politisch und rassisch Verfolgte nicht günstig ist. Wir wissen, daß in einer Zeit, in der Menschen zwischen Trümmern hausen, auf schmale Ration gesetzt, mit täglichen Sorgen kämpfend, der Neid auch für scheinbare Vorteile Gesetz des Hasses wird. Und die menschlichen Schwächen der Mißgunst und des Neides treten nur allzu sehr in Erscheinung, wenn es darum geht, etwas objektiv zu beurteilen. […] Mein oberster Grundsatz war und ist die vollkommene Gleichberechtigung aller, die durch die Hitlergesetze verfolgt waren und gelitten haben, auch in der Betreuung durchzuführen. Und ich darf sagen, daß trotz der verschiedensten unberechtigten dieses vollauf gelungen ist. […] Ich möchte vorweg hierzu bemerken, daß die Betreuung selbst lediglich ein Zwischenstadium ist, um die Not zu lindern und den Betreuten die Gelegenheit zu geben, ihre dringlichsten Bedürfnisse zu befriedigen, bis die Wiedergutmachung erfolgt. […] Das Einzige, was wir können, (ist,) den bescheidenen Versuch zu machen, mit materiellen Mitteln helfend einzugreifen, um dem Menschen, der seine Existenz, seine Arbeitskraft und sein bürgerliches Leben verloren hat, es mit materiellen Dingen wieder zu ermöglichen, das Verlorene wieder einzuholen. Die heutige Gesetzgebung gibt uns hierzu noch keine genügende Handhabe. Aber ich muß in aller Öffentlichkeit anerkennen, in welch großzügiger Weise die bayerische Staatsregierung mir vom ersten Tag meiner Arbeit, sowohl unter der Führung des Herrn Ministerpräsidenten Dr. Hoegner als auch unter der Führung des Herrn Ministerpräsidenten Dr. Ehard, durch die gütige Vermittlung meines Chefs, des Herrn Innenministers Seifried, zur Seite gestanden hat. […] Wir geben im Rahmen der Betreuung nach sorgfältiger Prüfung […] monatlich Renten, die gestaffelt zwischen RM 100,– und 250,– pro Monat und Person liegen. […] Wir gewähren diese Renten nicht nur an politisch und rassisch Verfolgte, sondern auch an die Hinterbliebenen derjenigen, die als Kämpfer gegen den Nationalsozialismus ihr Leben gelassen haben. […] (Im Folgenden führt Auerbach Zahlen auf, die den „Gerüchten über einseitige Betreuung“ die Grundlage entziehen sollen.) Wir können und dürfen es nicht zulassen, daß der Name des politisch und rassisch Verfolgten durch kriminelle Elemente beeinträchtigt wird. Daß hier und da Fehler vorgekommen sind, soll nicht bestritten werden und liegt in der Natur der Sache. Es gibt Fälle, in denen die Akten nicht alle zur Hand sind, wodurch erst später herauskommen kann, daß sich die falsche eidesstattliche Erklärung offenbart, die der Betreffende abgegeben hat. In diesem Referat arbeitet extra ein Beamter der Kriminalpolizei zur Überwachung und Überprüfung schwieriger Fälle. […]
Wir sind stets davon ausgegangen, mit den uns vom Staate anvertrauten Mitteln so sparsam und sorgfältig umzugehen, wie es notwendig ist, um mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns das zu verwalten, was uns zur Betreuung der rassisch, religiös und politisch Verfolgten zur Verfügung steht. […] Es gibt noch viele politisch und rassisch Verfolgte, die auch heute noch ohne Möbel und ohne Bettwäsche, sowie ohne das notwendige Geschirr und Kochtöpfe sind. […] Die Abteilung IV wird oft zum Gegenstand heftiger Szenen, denn sie beschäftigt sich mit der undankbaren Aufgabe der Wohnungsvermittlung, der Zuzugsgenehmigungserteilung und des Ausgleichs von Wohnungsdifferenzen. Heute nach zwei Jahren der Befreiung sind allein in München noch 280 politisch und rassisch verfolgte Familien ohne eigene Wohnung. […] In vielen Fällen greifen die Differenzen im Wohnungswesen auf das Politische über. Nach dem Sprichwort: „Wenn die Krippe leer ist, beißen sich die Pferde“ ereignen sich auch hier Komplikationen, die durch gütige Verhandlungen beigelegt werden müssen. Es ist meine Aufgabe, ausgleichend zu wirken, das Einigende hervorzuheben und das Trennende zu beseitigen, und es gibt viele Fälle, in denen der rassisch oder politisch Verfolgte, dem irgend etwas in seiner Wohnungspolitik nicht paßt, seinen Hauptmieter als Nazi verdächtigt, ohne daß er es ist. […] Es sind keine leichten Aufgaben, die sich hier bieten, aber für die Entspannung der politischen 2 5 10 15 20 25 30 35 40 45 38MATERIAL © GESCHICHTE LERNEN 119 | 2007 1 Atmosphäre dringend notwendig. Denn aus dem Streit in der gemeinsamen Küche entsteht Haß, und dieser Haß wächst in vielen Fällen zum grenzenlosen Antisemitismus und zur Voreingenommenheit gegen politisch Verfolgte. […] [Im Folgenden beschäftigt sich Auerbach mit der Rückgabe von Eigentum politisch und rassisch Verfolgter, das Deutsche nach 1933 erworben haben.] Es gibt keinen guten Glauben für den Kauf von Gewerkschaftshäusern, Arbeitersportplätzen, jüdischen Patrizierhäusern, Gemälden und Kunstgegenständen aus jüdischem Besitz. Der aber da kaufte mit der Genehmigung der Nazipartei hat gestohlenes Gut gekauft und hat die moralische Pflicht der Rückerstattung […]. Unser oberster Grundsatz bei der ganzen Frage der Wiedergutmachung ist der, daß wir kein neues Unrecht begehen wollen, um altes Unrecht wiedergutzumachen [Hervorhebung im Original]. […] Aber wir wollen auch keine Wiedergutmachungsgewinnler. Wir wollen dem einfachen Mann, der sein persönliches Ich in den Kampf gegen den Nationalsozialismus gestellt hat, die ihm gebührende Entschädigung zukommen lassen. […] Das Problem der ausländischen Juden ist nicht nur ein Problem der Betreuung, sondern ein Problem von höchster Bedeutung, und ich erlaube mir daher, in offener, klarer Weise Ihnen folgendes vor Augen zu führen: Zunächst muss man bedenken, daß diese Menschen nicht freiwillig hierhergekommen sind, daß der weitaus größte Teil in den jüngsten Jahren in das Konzentrationslager kam und nach der Befreiung weder Eltern noch Geschwister noch Ehegatten vorfand. Zum größten Teil lebt noch ein Mitglied der Familie, die anderen blieben in Auschwitz, Treblinka und Maidannek. Sie konnten nicht nach Hause, weil sie kein zu Hause mehr hatten […] und leben zum Teil heute noch in Lagern, unter Verhältnissen, die mehr als primitiv sind.
In den meisten Lagern gibt es keine Bettwäsche, kein richtiges Geschirr, und immer die Lageratmosphäre, seit Jahren. […] Sie erhalten die Kalorienzahl, aber ein großer Teil der Kalorien besteht aus Milchpulver, Kartoffelschnitzeln und Eipulver, so daß die Nahrungsmittel nicht dazu langen, um primitiven Ansprüchen zu genügen. Und dann kam der Hunger, die Entbehrung, die sie zwang, zunächst die Schokolade und die Zigaretten zu vertauschen gegen andere Lebensmittel; und als sie merkten, daß es gut geht, da wurde aus dem kleinen Tauschgeschäft ein Handel, der bei manchem Hemmungslosen zum Schwarzhandel ausartete. […] Aber das große Problem, das vor uns steht, bildet die Frage, was wird nach dem 30. Juni, wenn die UNRRA1 ihre Tore schließt. Die neue Organisation der IRO2 verfügt über ganz geringes Personal und wenig Mittel. Die deutsche Ernährungswirtschaft kann in Bayern 80.000 Menschen aus den Lagern jüdischer Herkunft und etwa 70.000 nichtjüdischer DP.’s nicht übernehmen. […] Ich habe Ihnen im Vorstehenden eine kurze Übersicht über die Tätigkeiten des Staatskommissariates gegeben. Sie sehen, wie vielfach die Aufgaben sind, die wir zu bewältigen haben, und aus diesen Aufgaben heraus spricht die Perspektive für die Zukunft der rassisch, religiös und politisch Verfolgten. Als wir in Buchenwald auf dem Fußboden lagen, um mit dem Geheimempfänger die Ansprache von Roosevelt und Churchill zu hören, da hörten wir durch den Äther Versprechungen für eine goldene Zukunft für die Opfer des Faschismus. Und wir sahen vor unserem geistigen Auge, daß sich die Tore der Lager öffnen, und vor uns marschierte ein unsichtbarer Zug gemordeter Kameraden, und wir glaubten an eine Freiheit, in der uns offene Arme empfangen. Wir sahen uns in unsere Heimatstädte kommen, umringt von Jubelrufen ob der Befreiung vom Joch des Nazismus. Das war der Traum. Und dann kamen sie in ihren Häftlingskleidern, angerissen, ausgemergelt, zum Teil zerbrochen in ihre Heimatdörfer und -städte, und sahen Trümmer, verängstigte Menschen und teilweise Haß und Verachtung. […] Mancher politisch und rassisch Verfolgte schämt sich seines Ausweises, weil er befürchtet, als Mensch zweiter Klasse bewertet zu werden. […]
München, den 21. April 1947 Der Staatskommissar Dr. Philipp Auerbach
Quelle: Institut für Zeitgeschichte Archiv, München: OMGB 13/141-1/1, Bayerisches Staatsministerium des Inneren, Staatskommissariat für rassisch, religiös und politisch Verfolgte, München, Holbeinstraße 11, Rechenschaftsbericht des Staatskommissars für rassisch, religiös und politisch Verfolgte, 15. September 1946 bis 15. Mai 1947.
Hans-Hermann Klare: Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte. Berlin 2022.
Karl Bachsleitner: Der Fall Philipp Auerbach. Ein Lehrstück aus den 50er Jahren, S. 33-41. In: Fachzeitschrift: Geschichte lernen. Heft 119/ 2007. Der Artikel beleuchtet die Herausforderungen der Wiedergutmachung in der frühen Bundesrepublik Deutschland.
Wir sind da! Juden in Deutschland nach 1945. 1999, eine TV-Dokumentation in vier Teilen à 45 Minuten. Teil 2 „Wiedergutmachung? Der Fall Auerbach.“ Buch und Regie: Richard Chaim Schneider. Produktion: Janusch Kozminski. Filmproduktion, München. TV-Premiere im WDR: 31.03.2000.
Podcast Jüdische Geschichte – LMU Ludwig-Maximilians-Universität – EP 52: Hans Hermann Klare hat im Aufbau Verlag eine Biographie Auerbachs vorgelegt, die er am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur mit Dr. Rachel Salamander diskutiert. 25. Oktober 2022.
Eine „displaced person“ war eine Zivilperson (Zwangsarbeiter, Verschleppter), die sich außerhalb ihres Heimatlandes aufhielt und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder sich in einem anderen Land ansiedeln konnte.
© Gedenkstätte Stille Helden
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60386 Frankfurt