Kempner Vitka
Hoffnungsträger
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PORTRAIT

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Die Sprengung eines Wehrmachtzugs war nicht ihre einzige Aktion.
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Und dann verließ sie das Ghetto wieder – mit Dynamit am Körper. (…) Sie wanderte 30 Kilometer, um einen deutschen Militärzug in die Luft zu sprengen. Es war der erste Wehrmachtszug, der überhaupt in Litauen in die Luft gesprengt wurde. Die Litauer taten es nicht, nicht die Polen, nicht die Russen – eine Jüdin! Diese Frau ist meine Frau.
Abba Kovner
Und dann verließ sie das Ghetto wieder – mit Dynamit am Körper. (…) Sie wanderte 30 Kilometer, um einen deutschen Militärzug in die Luft zu sprengen. Es war der erste Wehrmachtszug, der überhaupt in Litauen in die Luft gesprengt wurde. Die Litauer taten es nicht, nicht die Polen, nicht die Russen – eine Jüdin! Diese Frau ist meine Frau.
Vitka Kempner wächst im polnischen Kalisz auf. Ihre Eltern haben eine Schneiderei und sie studiert später in Warschau am Institut für Jüdische Studien. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen flieht sie im Oktober 1939 ins sowjetisch kontrollierte Vilnius, in der Hoffnung dort sicher zu sein. Hier schließt sie sich der links-zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair an, für deren Mitglieder die Vorbereitung auf ein Leben in Palästina im Mittelpunkt steht.
Doch der Schutz ist nur von kurzer Dauer. Im Juni 1941 marschieren deutsche Truppen in Litauen ein, Vilnius wird besetzt. Im September errichten die Besatzer das Ghetto, in das die jüdische Bevölkerung gezwungen wird. Vitka trifft eine Entscheidung: Sie weigert sich, ins Ghetto zu gehen, und bleibt im anderen Teil der Stadt. Mit gefälschten Papieren und blond gefärbtem Haar gibt sie sich als polnische Christin aus. Da sie Polnisch ohne jiddischen Akzent spricht, fällt sie nicht auf. Ihre Tarnung ermöglicht es ihr, weiter Kontakt zu Freundinnen und Freunden im Ghetto zu halten und sie mit Informationen über den Kriegsverlauf und Maßnahmen der Besatzung zu versorgen.
Dabei bleibt es nicht. Vitka findet Verstecke für Verfolgte, schmuggelt Waffen ins Ghetto und bringt dort gefertigte Bomben nach draußen – trotz der strengen Kontrollen am Eingangstor.
Am Silvesterabend 1941 ruft ihr Freund Abba Kovner im Ghetto eine Gruppe heimlich versammelter Menschen zum Widerstand auf. Seine Worte sind klar: „Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen.“
1942 entsteht aus mehreren jüdischen Jugendorganisationen die Fareynegte Partizaner Organizatsye (FPO) – die erste jüdische Widerstandsgruppe innerhalb eines Ghettos. Vitka Kempner ist von Anfang an dabei.
Im Sommer 1942 nimmt sie an einer der ersten spektakulären Aktionen teil. Zusammen mit zwei weiteren FPO-Mitgliedern legt sie 30 Kilometer zu Fuß mit Sprengstoff zurück und sprengt einen deutschen Waffentransportzug. Es ist der erste Wehrmachtszug, der in Litauen durch einen Anschlag zerstört wird – und Vitka ist die erste Frau, die eine solche Sabotage durchführt. Der Dichter Hirsch Glik widmet ihr daraufhin das Partisanenlied Shtil, di nakht iz oysgeshternt.
Als das Ghetto im September 1943 endgültig aufgelöst werden soll, organisiert die FPO die Flucht ihrer Mitglieder. Hunderte können in Etappen herausgeschleust werden. Die letzte Gruppe, darunter auch Abba Kovner, flieht durch die Kanalisation. Vitka Kempner wartet auf der anderen Seite – bringt sie in vorbereitete Verstecke. Von dort gelingt ihnen die Flucht in die Rudniki-Wälder.
Im Untergrund führen sie den Widerstand fort. Unter Kovners Kommando kämpft Vitka als Kommandantin einer Aufklärungseinheit. Im Juli 1944 beteiligt sie sich an der Seite der Roten Armee an der Befreiung von Vilnius. Für ihren Einsatz erhält sie später die sowjetische Tapferkeitsmedaille.
Nach dem Krieg halfen Vitka und Abba Hunderte Juden aus Europa heimlich nach Palästina zu bringen – trotz britischer Einreisebeschränkungen. 1946 wanderten sie selbst aus und ließen sich im Kibbuz Ein Horesh nieder, wo sie heirateten, eine Familie gründeten und zwei Kinder großzogen.
Später, mit 45 Jahren, beginnt Vitka ein Studium der klinischen Psychologie an der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv. Sie arbeitet anschließend als Psychologin und engagierte sich besonders für die Bildung von Kindern in Kibbuzim.
Quellen: Gedenkorte Europa 1939-1945) Vitka Kempner, online;
Nicht mit uns. Verfolgung von Jugendlichen im Nationalsozialismus – Biografie: Vitka Kempner;
Ingrid Strobl: Sag nie, du gehst den letzten Weg, S. 240-246. Frankfurt am Main, 6. Aufl. 2022.
Graphic Novel: Vitka Kempner – Avenger of the Holocaust, Rejected Princesses. In englischer Sprache, online.
Miri Freilich: Später Reise in die Gefilde der Erinnerung – Gedanken zur Lebensgeschichte der Vitka Kempner-Kovner, in Miri Freilich (Hrsg.): Der Dornbusch, der nicht verbrannte. Deutsche Ausgabe, Berlin 2012.
Videointerview mit Vitka Kempner (englischsprachig) sowie Biografie online bei der Jewish Partisan Educational Foundation.
Shtil, di Nakht iz oysgeshternt“ ist ein jiddisches Lied von 1942, das Hirsch Glik Vitka Kempner widmete – die einen Wehrmachtszug mit Waffen an die Ostfront in die Luft gesprengt hatte.
Das Original, gesungen von Nizza Thobi, ist online zu hören in Nicht mit uns! Verfolgung von Jugendlichen im Nationalsozialismus, Kapitel 4.
Deutsche Übersetzung
»Still! Die Nacht ist voller Sterne.
Und es war beißender Frost.
Erinnerst du dich noch,
wie ich dir beigebracht habe,
ein Maschinengewehr in den Händen zu halten?
Ein Mädchen, ein Pelzchen, ein Barrett,
die Waffe fest in der Hand
ein Mädchen mit samtweichem Gesicht
beobachtet den Zug der Feinde.
Gezielt, geschossen und getroffen
hat ihre kleine Pistole!
Ein Auto, voll mit Waffen,
hat sie mit einer Kugel aufgehalten!
Noch vor Tagesanbruch aus dem Wald herausgekrochen
mit Schneegirlanden auf den Haaren.
Mutgestärkt von kleinen Siegen
für unsere neue, freie Zeit.“
Nicht mit uns! Verfolgung von Jugendlichen im Nationalsozialismus, Kapitel 4, online.
Vitka Kempner über die Ungleichbehandlung von Frauen innerhalb der Partisaneneinheiten
„Die russischen Partisanen glaubten nicht, dass Frauen genauso kämpfen konnten wie Männer, und vielleicht hatten sie damit sogar recht. Denn bei den Bedingungen unter den Partisanen war es für eine Frau tatsächlich schwieriger zu kämpfen. Aber wir gingen hinaus und sprengten Züge in die Luft, man musste viele Kilos an TNT tragen. Und für eine Frau war es wirklich schwierig 50 Kilometer mit dem TNT zu laufen. So passierte es, dass unsere Jungs mehr tragen mussten. Also sagten sie, wozu brauchen wir sie? Die Männer wollten uns nicht, nicht nur die Russen. Die Männer wollten die Frauen nicht mitnehmen. Abba zwang sie fast schon dazu, eine Frau bei jeder Operation dabei zu haben.
Aber die Wahrheit ist, es gab tatsächlich Schwierigkeiten. Für eine Frau war es unter den existierenden Bedingungen viel schwieriger als für einen (männlichen) Partisan. Mit der Ausnahme von Missionen wie Ausspähungen oder individuellen Operationen, einzelnen Sprengungen, Dinge, die Frauen taten, wenn sie in die Stadt gingen, oder Auskundschaftungen, dort waren sie gleichwertig. Aber bei Einsätzen war es wirklich schwierig. Nicht alle sehen das so, nicht alle Mädchen stimmen dem zu, aber ich denke, objektiv gesehen, war es schwierig.
Die Sowjets dachten nicht, dass Mädchen kämpfen konnten, obwohl sie einige hatten, aber wenige. Die meisten hatten keine. Und sie entwickelten eine Theorie, dass wer auch immer den Partisanen hilft, ein Kämpfer ist. Jemand, der für die kämpfenden Partisanen Kartoffeln schält, ist ein Kämpfer; wer auch immer Kleidung wäscht, ist ein Kämpfer. Das war ihre Idee. Das sagten sie immer. Aber unter uns waren Mädchen, die das Gefühl hatten, dieselbe Arbeit wie Männer tun zu können, und es war sehr schwer, sie davon zu überzeugen.“
Quelle: Videointerview mit Vitka Kempner Kovner der Jewish Partisan Educational Foundation. Deutsche Übersetzung in: Nicht mit uns! Verfolgung von Jugendlichen im Nationalsozialismus, Kapitel 5, online.
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