Becker Bleiben wo ich nie gewesen bin, 2024
Der Kunstparcours
Bleiben wo ich nie gewesen bin, 2024
fpoK mi tnnigeb dnatsrediW reD - Retrografie zur geistigen Ertüchtigung.
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Ein Blick hinter das Werk
Unter den Arkaden des Union-Areals liegt eine Decke, unscheinbar, alltäglich, vertraut, und doch wird sie zum Träger eines existenziellen Satzes: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ Mit dieser Arbeit bezieht sich der Frankfurter Künstler Justus Becker, auch bekannt als COR, auf den Schriftsteller Thomas Brasch, einen der großen sprachmächtigen Außenseiter der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Satz stammt aus Braschs Gedicht Was ich habe, will ich nicht verlieren aus dem Band Kargo (1977), in dem sich das lyrische Ich in einem Netz aus Widersprüchen verstrickt: zwischen Bindung und Aufbruch, Liebe und Distanz, Leben und Tod.
Brasch, Sohn eines hohen DDR-Funktionärs, wurde 1968 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ inhaftiert, nachdem er gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei protestiert hatte. 1977 verließ er die DDR; ein Schritt, der Befreiung und Verlust zugleich bedeutete. In seinem Vers verdichten sich die Spannungen eines Lebens zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung, zwischen dem Wunsch nach Ankunft und der Unmöglichkeit des Bleibens.
Beckers Installation bringt diese Ambivalenz in den öffentlichen Raum zurück, an einen Ort, an dem sich Bewegung, Aufenthalt und Vergänglichkeit täglich überlagern. Die Decke, auf der Braschs Satz zu lesen ist, markiert einen provisorischen Ort des Bleibens: Sie steht für Wärme und Schutz, aber auch für Obdachlosigkeit, für jene, die nirgendwo zu Hause sind. Unter den Arkaden, einem Übergangsraum zwischen innen und außen, Schutz und Öffentlichkeit, entfaltet der Schriftzug eine doppelte Bedeutung: Er spricht vom Sehnsuchtsort, an dem man verweilen möchte, und zugleich von der Unmöglichkeit, diesen Ort je zu erreichen.
In Beckers Werk, das oft an der Schnittstelle von Street-Art, politischem Statement und Poesie operiert, verbindet sich der poetische Gestus mit gesellschaftlicher Dringlichkeit. Die Installation ist kein Denkmal, sondern eine Einladung zur Reflexion: über das Verhältnis von Ort und Identität, von Dazugehören und Fremdsein.
Das Zitat von Thomas Brasch wird hier zu einem stillen Echo der Gegenwart. Es erinnert an all jene, die unterwegs sind, freiwillig oder gezwungenermaßen, und deren Bleiben immer nur vorläufig sein kann. Gleichzeitig verweist es auf den utopischen Kern des Menschseins: den Wunsch, anzukommen in einem Raum, der noch nicht existiert, „wo ich nie gewesen bin“.
So wird Beckers Arbeit zu einer poetischen Intervention im Stadtraum: Sie verwandelt ein alltägliches Objekt in ein Symbol für Heimatlosigkeit und Hoffnung zugleich und lässt Braschs existenzielle Zeile leuchten als eine der schönsten Paradoxien der modernen Literatur.
Über die Künstler:in
Der Künstler und Illustrator Justus Becker (*1978 in Hamburg) ist seit den frühen Neunzigerjahren als Graffiti-Sprüher unter dem Künstlernamen „COR“, lat. das Herz, aktiv und bemalte Wände auf der ganzen Welt. Unter anderem 2018 die der Deutschen Botschaft in Tokio (Japan), 2019 im Rahmen der Städtepartnerschaft ein Streetart-Mural in Toronto und 2022 eine Friedenstaube anlässlich der Ukrainekrise in Frankfurt am Main. Sein Markenzeichen sind große, wilde, bunte und fotorealistische Porträts. Gemeinsam mit anderen Aktivisten erschafft er auch große politische und gesellschaftskritische Bilder im öffentlichen Raum in Frankfurt am Main.
Ardi Goldman Kunst-
und Kulturstiftung gGmbH
60386 Frankfurt