Warburg Vergangenheit, die nicht vergehen will, 2024
Der Kunstparcours
Vergangenheit, die nicht vergehen will, 2024
Ich habe lange nach einem passenden Motiv für die Buchrücken gesucht. Mir war relativ schnell klar, dass es eine Rückenfigur werden sollte, so Caspar-David-Friedrich-mäßig. Erst dachte ich an Helmut Kohl und Francois Mitterand Hand in Hand in Verdun 1984. Aber Kohl ist ja so eine Witzfigur. Wenn man ein Bild von ihm sieht denkt man direkt an die Titanic. Das wollte ich nicht. Mir fiel nichts ein. Eines Morgens saß ich sehr früh am Main, weil ich mir einen kleinen Hund gekauft hatte, der stubenrein werden musste. Es war Sommer aber noch morgendlich frisch. An mir vorbei lief ein Anzugträger Hand in Hand mit seinem Sohn. Der Sohn hatte kurze Hosen an und weil ihm wohl kalt war, hatte der Vater ihm sein Jackett gegeben. Dieses Bild fand ich direkt großartig; leicht kitschige Schlagseite, einprägsam, comichaft, perfekt. Väter und Söhne, große Fußstapfen, große Jacketts, große Schuld.
EDUCATION
Studium Freie Bildende Kunst / Meisterschüler, Städelschule – Staatliche Hochschule für bildende Künste, Frankfurt am Main
GRANTS, AWARDS, RECOGNITION
2021 Lichter Art Award, Q21, Wien
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Ein Blick hinter das Werk
Nicholas Warburg – Vergangenheit, die nicht vergehen will
Mit seinem Werk – „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ – greift der Künstler Nicholas Warburg die verdrängte, selektiv erinnerte Geschichte des Holocaust auf, eine schmerzhafte Leerstelle in der kollektiven Erinnerungskultur Deutschlands.
Der Titel des Werks zitiert bewusst die Formulierung des Historikers Ernst Nolte, dessen gleichnamiger Beitrag 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien und den „Historikerstreit“ auslöste. In einer Reihe späterer Debatten – angefangen bei Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998, in der er von der „Moralkeule Auschwitz“ und der „Monumentalisierung unserer Schande“ sprach, bis zu Björn Höckes Rede von 2017, in der er das Berliner Holocaust-Mahnmal als ein „Denkmal der Schande“ bezeichnete – zeigt sich eine Linie eklatanter Geschichtsvergessenheit.
Auch in der aktuellen Debatte des Historikerstreit 2.0 wird wieder die Singularität des Holocaust in Frage gestellt, dieses Mal sind es jedoch keine deutschen Intellektuellen, sondern internationale Wissenschaftler*innen vor allem aus dem postkolonialen Spektrum. Warburg positioniert sich gegen diese Tendenzen – und spiegelt zugleich die Ambivalenz, mit der sich die deutsche Erinnerungskultur ihrer eigenen Vergangenheit stellt.
Bekannt wurde Nicholas Warburg als Mitgründer des Kollektivs Frankfurter Hauptschule, das seit 2013 durch medienwirksame, oft provokante Aktionen Aufmerksamkeit erregt. Seine Arbeiten thematisieren deutsche Mythen, autoritäre Denkfiguren und die blinden Flecken einer sich als aufgeklärt verstehenden Gesellschaft. Sein Werk lebt von Irritation, Humor und analytischer Präzision. Er setzt dort an, wo es weh tut.
Die Figuren in Warburgs Arbeit „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ erscheinen wie Rückenansichten aus einem alten Comic, keine „Entenhausener Helden“, sondern „Vater und Sohn“, sinnbildlich für die Generation der Täter und der Nachgeborenen. Die vermeintlich harmlosen Referenzen kippen, wenn man sich fragt, welche Erzählungen fehlen – und warum manche Bilder so präsent sind, während andere systematisch verdrängt wurden.
Warburgs Kunst analysiert und nimmt die Formen der Popkultur, der Medien und des Designs als Speicher kollektiver Vorstellungen, Wünsche und Projektionen ernst. Zwischen Wohlstandskitsch und Aufarbeitungslücke wird seine Bildsprache zum Skalpell.
Seine Arbeit verweist auf das, was die Soziologen Oliver Decker und Elmar Brähler im Anschluss an Herbert Marcuse als „narzisstische Plombe“ bezeichnen: eine Gesellschaft, die sich – wenn keine Führerfigur mehr greifbar ist – abstraktere Identifikationssymbole wie eine starke D-Mark sucht. Wohlstand tilgt Schuld und Erinnerung wird durch historische Kulissen ersetzt.
Die Arbeit spricht von Verdrängung, Verklärung und Vergessen, ohne moralisierend zu sein. Mit „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ formuliert Nicholas Warburg einen klugen und vielschichtigen Kommentar zum kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik und konfrontiert das Publikum mit der Frage: Welche Geschichten erzählen, welche verschweigen wir? Und wie verorten wir uns selbst im Kontext dieser Erzählung?
Über die Künstler:in
Nicholas Warburg (*1992, Frankfurt am Main) studierte Kunst am California Institute of the Arts in Santa Clarita und an der Städelschule in Frankfurt am Main (Meisterschüler von Tobias Rehberger). Seine Arbeiten, die sich auf ambivalente Weise mit deutscher Geschichte und Kunstgeschichte auseinandersetzen, wurden im Kunstpalast Düsseldorf, Kunstmuseum Marburg, Neuen Aachener Kunstverein und Kunstraum Potsdam gezeigt. Er wurde mit Preisen, Stipendien und Residenzen der Stiftung Kunstfonds, der neuen Gesellschaft für bildende Kunst Berlin, des Mousonturm Frankfurt, des Q21 Wien, dem Lichter Art Award und dem Autor*innenpreis des Heildeberger Stückemarktes ausgezeichnet. Seit 2021 lehrt er an der Universität der Künste Berlin.
Ardi Goldman Kunst-
und Kulturstiftung gGmbH
60386 Frankfurt