Various & Gould Sankt Nimmerlein – Litfaßsäulen, 2010/11 I 2024
Der Kunstparcours
Sankt Nimmerlein – Litfaßsäulen, 2010/11 I 2024
Es geht uns nicht um Religion. Vielmehr kapern wir eine jahrhundertealte Bildtradition, um drängende Nöte unserer Zeit zu reflektieren. Bei der Bekämpfung dieser Probleme, wie z. B. Kindesmissbrauch, Klimakrise, Obdachlosigkeit, Queerfeindlichkeit oder globale Ungerechtigkeit, dürfen wir Menschen nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.
Gould: *1978 in Düsseldorf, DE
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Ein Blick hinter das Werk
Das Künstlerkollektiv Various & Gould ist seit fast zwanzig Jahren fester Bestandteil der Berliner Urban-Art-Szene. Bekannt für ihre Plakate, Wandmalereien und Interventionen im öffentlichen Raum setzen sich die beiden mit gesellschaftlichen Themen und Urbanität auseinander und begreifen Kunst immer auch als sozialen Beitrag: „Wir beteiligen uns und fügen der Stadt etwas hinzu.“
Ihre Werkreihen sind beeinflusst von politischer Plakatgrafik, Dada und aktivistischen Praktiken. In ihren Collagen hinterfragen sie Vorurteile und feiern die menschliche Vielfalt, oft mit spielerischer Bildsprache, aber stets mit klarem politischen Bewusstsein. Mit großformatigen, ortsprägenden Murals übersetzen sie Papier- und Siebdruckästhetik in malerische Stadträume, stets im Dialog mit dem urbanen Umfeld. Ihre Arbeiten changieren zwischen visuellem Witz und kritischer Intervention und stellen immer wieder die Frage, wie viel Hoffnung wir in unsere Heiligen setzen können.
Für die Litfaßsäulen des Union-Areals wurde ihre zehnteilige Plakatserie Sankt Nimmerlein aufgegriffen, eine ikonisch gestaltete Parade moderner Schutzpatron*innen, die den großen Konflikten unserer Gegenwart gewidmet ist. Die 2009 begonnene und 2011 abgeschlossene Serie orientiert sich formal an der Tradition der Vierzehn Nothelfer, ersetzt sie aber durch fiktive Figuren, die inhaltlich und visuell auf Themen wie Globalisierung, Migration, Gentrifizierung, Klimawandel oder Finanzkrise reagieren. So wird zum Beispiel Sankt Gentrifizian zum „Patron der Hausbesetzer, Demonstranten und Vermummten, der Graffitisprüher, Stadtsoziologen, Fahrradfahrer und Fußgänger“. Doch auch andere Figuren der Serie werfen mit grotesken, überzeichneten Mitteln ein Schlaglicht auf gesellschaftliche Bruchstellen: Sankt Cargo, „Schutzpatron der Flüchtlinge“, ist eine Heiligenfigur der Grenzüberschreitungen, verehrt von Migranten und Exilanten, aber auch von Piraten, Schmugglern, Zöllnern und Grenzbeamten. Sein fiktiver Gedenktag, der 3. Oktober, verbindet symbolträchtig den Tag der Deutschen Einheit mit dem Gründungsdatum der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, ein doppelter Hinweis auf die Widersprüche moderner Grenzpolitik.
„Sankt Cargo, schütze mich mit Deiner Hand, auf der Reise ins gelobte Land!“
Sankt Spekulatius, „Patron der Banker, Manager und Oligarchen, der Spielsuchenden, Diebe und Betrüger“, verkörpert die Exzesse und Fallstricke des globalen Finanzsystems. Sein Gedenktag, der 15. September, verweist auf den Tag des Lehman-Brothers-Zusammenbruchs, ein symbolischer Moment der jüngeren Wirtschaftsgeschichte. „Der Zweck heiligt die Zahlungsmittel.“ So lautet das zynische Credo dieses schillernden Heiligen mit AAA-Tattoo, Galgenstrick-Krawatte und goldbalancierter Tellerskulptur.
Jede der 2,70 Meter hohen Siebdruckarbeiten wurde in aufwendiger Recherchearbeit konzipiert und handgedruckt in einer kleinen Edition realisiert, teils für Galerien, teils für den öffentlichen Raum. Ergänzt wird die Serie durch einen humorvoll konzipierten Kalender, der die liturgische Praxis aufgreift: Jede Figur hat ihren eigenen Gedenktag, eine erfundene Biografie und einen gereimten Spruch, der zwischen Satire und Mahnung oszilliert.
Various & Gould setzen sich mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen auseinander – etwa mit Missbrauch, Migration oder Gentrifizierung. Um diese schwierigen Themen zu behandeln, greifen sie auf die Bildtradition des christlichen Heiligenbildes zurück. Sie verwenden es nicht wie in früheren Zeiten als Erinnerung an Märtyrer*innen, sondern deuten es aus einer zeitgenössischen Perspektive um. Die Attribute stehen dabei nicht für individuelles Leid, sondern verweisen, wie Ilaria Hoppe beschreibt, auf strukturelle und soziale Missstände.
Ob als Kalender, Galerieedition oder Intervention im Stadtraum, Sankt Nimmerlein ist eine bildstarke, ironisch gebrochene Heiligenschar, die mit Witz, Ernst und visueller Kraft zur Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Zeit anregt.
Die Heiligen sind fiktiv, doch die Fragen, die sie stellen, sind erschreckend real.
Über die Künstler:in
Various (*1982 in Palo Alto, USA) und Gould (*1978 in Düsseldorf) sind ein Künstlerduo. 2010 haben sie ihr Diplom an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (KHB) abgelegt. Doch bereits 2008 hatten sie ihre Serie „Identikit“ für eine Soloshow in der Brooklynite Gallery nach New York gebracht. Seitdem folgten zahlreiche internationale Ausstellungsbeteiligungen. Various & Gould setzen sich in ihren Werken mit gesellschaftlichen Themen und Urbanität auseinander. Mit partizipativen Projekten wie „Papergirl“ (2006–2010) oder „Monumental Shadows“ (2021, gefördert durch die Berliner Senatsverwaltung und BPUP, den Berliner Projektfonds Urbane Praxis) verbinden sie künstlerische Interventionen im Stadtraum mit sozialen Fragestellungen. Ihr erstes großformatiges Mural „Face Time“ (2015 in Berlin) war der Auftakt für viele weitere Fassadenbilder und Kunst-am-Bau-Projekte. Ihre Werke sind unter anderem in den Sammlungen des Urban-Nation-Museums (Berlin) und des Brandenburgischen Landesmuseums für Moderne Kunst (Cottbus) vertreten.
Ardi Goldman Kunst-
und Kulturstiftung gGmbH
60386 Frankfurt